Zwei Neonazis greifen Journalisten im thüringischen Fretterode an. Jetzt beginnt der Prozess – gut drei Jahre später.

Mehr als drei Jahre nach dem brutalen Überfall von Neonazis auf zwei Journalisten im thüringischen Fretterode soll nun endlich der entsprechende Strafprozess beginnen. Vom 7. September an stehen der ehemalige NPD-Führungskader Gianluca B. und Nordulf H. vor dem Landgericht in Mühlhausen. Ihnen, die bislang zu den Tatvorwürfen geschwiegen haben, wird schwerer Raub in Tateinheit mit gemeinschaftlich begangener schwerer Körperverletzung vorgeworfen. Möglicherweise aber wird der Tatvorwurf in der Hauptverhandlung sogar noch erweitert – auf versuchten Totschlag.

Der Überfall, der nun vor Gericht behandelt wird, ereignete sich am 29. April 2018. Damals hielten sich die beiden Göttinger Journalisten Malte und Julius (Namen geändert) auf der öffentlichen Straße vor dem Grundstück des NPD-Vizechefs Thorsten Heise im Landkreis Eichsfeld auf. Sie hatten einen Hinweis darauf erhalten, dass an dem Tag ein Treffen führender Neonazis dort stattfinden sollte. Der mehrfach vorbestrafte Rechtsextremist, der 1999 aus Niedersachsen nach Thüringen zog und als wichtige und einflussreiche Verbindungsfigur der nationalen und internationalen Neonazi-Szene gilt, betreibt in dem Gutshaus sein Rechtsrock-Label W&B, den gleichnamigen Versandhandel sowie den Nordland Verlag (der sich den Namen mit einer Waffen-SS-Division teilt), der Bücher über das Hitler-Militär publiziert.

Die beiden Göttinger Journalisten, die seit vielen Jahren die Aktivitäten der Neonazi-Szene im Raum Niedersachsen-Thüringen recherchieren und dokumentieren, wollten die anreisenden Nazikader zu Recherchezwecken fotografieren. „Anderthalb Stunden lang passierte aber nichts, dann kam plötzlich jemand von Heises Grundstück, sprang über den Zaun und lief um unser Auto herum“, erinnert sich Malte. Sie hätten den Mann fotografiert, der daraufhin ins Haus zurücklief. Kurz darauf hätten er und sein Freund Julius sich entschlossen, das Feld zu räumen.

Neonazi-Attacke in Fretterode: Angriff mit Messer und Schraubenschlüssel

Die Journalisten fuhren davon, doch sie wurden von einem schwarzen Wagen verfolgt, der sie schnell einholte. Die Fahrt endete schließlich im Straßengraben am Ortseingang von Hohengandern, das etwa acht Kilometer entfernt liegt von Fretterode. Wie Malte schildert, habe das Auto der Verfolger angehalten, die beiden Insassen seien herausgesprungen und auf das Auto der Journalisten zugelaufen. Geistesgegenwärtig hatte Malte zuvor noch die Speicherkarte aus der Kamera genommen und sie in seinem Strumpf versteckt. Darauf waren Fotos eines der beiden Angreifer. Die Neonazis – so die Schilderung der überfallenen Journalisten bei der Polizei – zerstachen die Reifen, zerschlugen die Scheiben des Autos und sprühten Pfefferspray in das Wageninnere.

Julius, der aus dem Auto flüchtete, wurde von Gianluca B. verfolgt. Als B. ihn einholte, habe der ihn mit einem etwa 60 Zentimeter langen Schraubenschlüssel mit voller Wucht auf den Kopf geschlagen, gab Julius an. Das führte zu einer heftig blutenden Platzwunde. Später diagnostizierten Ärzte zudem eine Schädelfraktur bei dem jungen Mann.

Malte war nach eigenen Angaben unterdessen im Auto geblieben und versuchte, sich gegen den zweiten Angreifer – Nordulf H. – zur Wehr zu setzen. Mehrmals soll H. mit einem langen Messer nach dem Journalisten gestochen und ihn schließlich am Oberschenkel getroffen haben. Dann habe H. sich die Kamera aus dem Wageninneren gegriffen und sei mit seinem Kumpel B. davongerast.

Neonazi-Attacke in Fretterode: Der Tatvorwurf könnte erweitert werden

Die Ermittlungen der Polizei liefen nur schleppend an. Anfangs ging man von einer von beiden Seiten provozierten Schlägerei aus und ermittelte sogar kurzzeitig gegen die Opfer. Erst als das Landeskriminalamt auf die Proteste der Opferanwälte reagierte und die Ermittlungen übernahm, wurden die beiden Angreifer identifiziert und als Beschuldigte in dem Verfahren eingestuft. Es dauerte dann noch einmal fast ein Jahr bis zur Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft Mühlhausen. Der Anklagevorwurf wurde jedoch auf schweren Raub und schwere Körperverletzung beschränkt. Eine Tötungsabsicht, wie es die Anwälte der beiden Opfer sehen, oder auch nur einen bedingten Tötungsvorsatz – hierbei zielt der Täter nicht darauf, das Opfer zu töten, nimmt aber dessen möglichen Tod bei seinem Angriff billigend in Kauf – vermochte die Anklage nicht zu erkennen. Dafür hätten sich nach den Ermittlungen der Polizei „keine objektiven Anhaltspunkte“ ergeben, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft.

Der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam, der zusammen mit seinem Kollegen Rasmus Kahlen die Überfallopfer vertritt, sieht das anders. „Wer mit einem Messer blindwütig durch eine eingeschlagene Autoscheibe nach einem Menschen sticht, muss mit tödlichen Verletzungen rechnen“, sagt Adam. Wenn zum Beispiel die Oberschenkelarterie getroffen werde, verblute das Opfer binnen Minuten.

Auch bei dem Angreifer, der Julius einen großen schweren Schraubenschlüssel mit voller Wucht auf den Kopf geschlagen habe, könne man einen Tötungsvorsatz durchaus annehmen, ergänzt Anwalt Kahlen. „Im Prozess wird eine Rechtsmedizinerin dahingehend befragt werden, ob solch ein Schlag auch zum Tode führen kann. Wenn die Expertin das bestätigt, könnte es passieren, dass die Anklage auf versuchten Totschlag erweitert wird.“ Er, Kahle, sei sicher, dass das Gericht dies umfangreich prüfen werde. Das hätte der Richter schon vor Beginn des Prozesses erkennen lassen.

Neonazi-Attacke in Fretterode: Es droht eine mehrjährige Freiheitsstrafe

Aber auch wenn die Anklage in ihrer jetzigen Form bestehen bleibt, droht beiden Tatverdächtigen eine mehrjährige Freiheitsstrafe. Denn allein schon für den schweren Raub, den B. und H. unter Verwendung eines gefährlichen Gegenstandes (großer Schraubenschlüssel) und einer Waffe (Messer) begangen haben sollen, droht ihnen laut Paragraf 250 StGB eine Mindeststrafe von fünf Jahren Haft. Mindestens fünf Jahre, wie Anwalt Kahlen betont: „Bei der Intensität des Angriffs und der Zerstörung des Autos sowie des Raubs einer kostspieligen Kameraausrüstung bewegt sich das Delikt längst nicht mehr im unteren, sondern eher im mittleren Strafrahmen. Und da sind wir schon bei sieben bis acht Jahren Haft.“

Umso unverständlicher ist es vor diesem Hintergrund, dass beide dringend tatverdächtige Angeklagte seit der Tat auf freiem Fuß sind. Gianluca B. etwa, der als politischer Ziehsohn von NPD-Bundesvize Heise gilt, lebt auf dem Grundstück seines Förderers in Fretterode. Ein halbes Jahr nach dem Angriff von 2018 agierte er bei einem Nazitreffen auf Heises Anwesen sogar als Ordner und Ansprechpartner der Polizei.

Und Nordulf H. – zur Tatzeit noch minderjährig – konnte nach dem Überfall sogar ins Ausland übersiedeln und eine Ausbildung in der Schweiz absolvieren. Nach Recherchen des Internetportal tatort-fretterode.org soll er in Visp im Oberwallis von einem engen Freund der Familie Heise aufgenommen worden sein. Der Schweizer gilt als Verantwortlicher für die Blood&Honour-Sektion des Kantons Oberwallis und betreibt im Wallis ein Tattoo-Studio und einen szenetypischen Textilienshop. Nordulf H. soll sich zudem in der Schweiz im Umfeld von Blood&Honour und anderen rechtsextremen Gruppen bewegt haben.

Der Umstand, dass gegen beide Angeklagte nie ein Haftbefehl erlassen wurde, ist aus Sicht von Anwalt Kahlen auch der Hauptgrund für die bisherige lange Verfahrensdauer. „Die Straftat ist von der Intensität her vergleichbar mit einem bewaffneten Banküberfall, bei dem es Verletzte gibt“, sagt Kahlen. „Aber während ein Bankräuber mit Sicherheit in Untersuchungshaft wandern würde, konnten die beiden Angeklagten in diesem Fall mehr als drei Jahre lang völlig unbehelligt leben. Und da der Fall keine Haftsache war, galt auch nicht das Beschleunigungsgebot für das Strafverfahren.“ Im Prozess müsse man nun darauf achten, dass das Gericht die lange Verfahrensdauer nicht als mildernd für die Angeklagten wertet, sagt er. Aus früheren Beispielen wie den Prozessen wegen der Neonaziüberfälle in Leipzig-Connewitz und im thüringischen Ballstädt wisse man, dass dies zu milden Strafen für die Angeklagten führen kann.