Ende April haben mutmaßlich Neonazis in Fretterode zwei Journalisten während einer Recherche angegriffen, verfolgt, beraubt und verletzt. Ein halbes Jahr nach der Tat kehrt einer von ihnen erstmals zurück.

Fretterode / 19.11.2018

Fretterode, Eichsfeld – das 170-Seelen-Dorf liegt an der Deutschen Märchenstraße. Rot und gelb leuchten die Blätter der Bäume an diesem Novembertag in der hügeligen, thüringischen Landschaft, die den Ort umgibt. Die Straßen sehen frisch gekehrt aus. Es ist still. Nur dann und wann schallt vom Spielberg herab das Blöken der Schafe. Der Geruch ihrer Exkremente zieht von Zeit zu Zeit vom Spielberg die Lippengasse hinauf.

Neonazi Thorsten Heise hat es sich in diesem Dorfidyll gemütlich gemacht. Mit seiner Familie bewohnt er ein ehemaliges Gutshaus mitten im Ort an der Dorfstraße unweit des Thies. Auf einer Anhöhe thront sein Fachwerkhaus, umgeben von Mauern und blickdichten Hecken. Weißer Rauch zieht an diesem späten Nachmittag aus dem Schornstein in den Nachmittagshimmel. Der Landesvorsitzende der NPD in Thüringen erwartet Gäste, zum Zeitzeugen-Abend hat er geladen.

Heises Gast war zum Tode verurteilt

Als Redner hat Heise heute den 96-jährigen ehemaligen SS-Mann Karl Münter eingeladen. Das geht aus einer Ankündigung hervor, die auf einer inzwischen gelöschten Facebook-Seite zum Rechtsrock-Festival „Rock gegen Überfremdung“ kursierte.

Münter war zunächst Mitglied der Leibstandarte SS Adolf-Hitler, später dann der 12. SS Panzerdivision Hitlerjugend. Das Denkmal für die Waffen-SS, das seit 2006 bei Heise auf dem Grundstück steht, trägt die Abzeichen dieser beiden SS-Einheiten.

Münter war einer der Täter beim Massaker von Ascq, bei dem eine Abteilung der 12. SS-Panzer-Division Hitlerjugend in der Nacht auf den 2. April 1944 im besetzten Frankreich bei einem Racheakt 86 Franzosen erschoss.

Im August 1949 wird Münter wegen seiner Beteiligung an dem Massaker vom Militärgericht Metz in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde jedoch nie vollstreckt. Ein erneutes Ermittlungsverfahren gegen den früheren SS-Mann Münter hat die Generalstaatsanwaltschaft Celle im März 2018 eingestellt. Hintergrund sei der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat zweimal bestraft werden dürfe, erläutert das Gericht. Nach französischem Strafgesetzbuch ist eine Strafe wegen eines Kriegsverbrechens im Sinne des Völkerrechts 20 Jahre nach Eintritt der Rechtskraft verjährt.

Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet

Mit der Ruhe in Fretterode ist es an diesem frühen Novemberabend vorbei: Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland reisen im Schutz der aufziehenden Dunkelheit an. Von Rotenburg / Wümme bis Nürnberg, von Bielefeld bis zur Uckermark kommen sie. In großen Audis, Mercedes, BMW, im Porsche Cayenne, VW T5 oder Touareg, im Land Rover fahren sie vor. Kennzeichen mit der Buchstabenkombination AH (Initialen für Adolf Hitler) oder der Ziffernfolgen 88 (Zahlencode für HH, das für „Heil Hitler“ steht) oder 18 (Zahlencode für AH, das für „Adolf Hitler“ steht) sind eher die Regel denn Ausnahme.

Meist sind es Männer, die aussteigen und bei denen zumindest die Autos Geld und Einfluss suggerieren. Fragen, warum sie an der Veranstaltung teilnehmen, lassen sie unbeantwortet. Jeder, der – vorbei am Denkmal für die toten Soldaten beider Weltkriege – das Anwesen Heises durch das schwere schmiedeeiserne Tor betreten will, wird kontrolliert. Mobiltelefone müssen draußen bleiben. Zu groß ist die Angst, dass etwas von diesem konspirativen Treffen an die Öffentlichkeit dringt.

„Euch reiß‘ ich noch mal den Kopf ab“

Am Ende sind es rund 120 Gäste, die an der Heise-Veranstaltung teilnehmen. Außer den Anzugträgern sind auch Teilnehmer aus dem Eichsfeld dabei, darunter der NPD-Kreisvorsitzende im Eichsfeld, Martin Lopotsch, und die NPD-Kreistagsabgeordnete Monika Hirkow sowie glatzköpfige Muskelberge. „Euch reiß‘ ich noch mal den Kopf ab“, brüllt einer von ihnen den Journalisten entgegen, die den gespenstischen Aufzug beobachten.

„Wollen die hier wieder feiern?“, fragt eine Nachbarin von Heise. „Dann wird es wieder laut!“ Kopfschüttelnd verschwindet sie in ihrem Hauseingang.

Veranstaltungen gebe es bei Heise häufiger. „Wir hatten auch schon Auseinandersetzungen“, berichtet Polizeisprecherin Fränze Töpfer. Szenebeobachter schätzen, dass es pro Jahr fünf bis sechs Veranstaltungen bei Heise gibt, die überregionale Gäste anziehen. Hinzukommen regelmäßige Kameradschaftsabende.

„Es ist ein echt krasses Gefühl, wieder hier zu sein“

Zu den Beobachtern – darunter ein Team für den NDR – gehört an diesem Tag auch M. (Name der Redaktion bekannt). Seit Jahren recherchiert er gemeinsam mit anderen im extrem rechten Milieu – macht Fotos, ergründet rechte Netzwerke und Strukturen, stellt seine Rechercheergebnisse als freier Journalist Medien zur Verfügung. Als er das vorige Mal zu Recherchezwecken Foto- und Filmaufnahmen von Heises Grundstück machte, war keine Polizei vor Ort, wie an diesem Tag. „Es ist ein echt krasses Gefühl, wieder hier zu sein“, sagt M. sichtlich nervös, als er sich an die Vorgänge vom April erinnert.

Damals hatten zwei Neonazis, die von Heises Grundstück kamen, M. und einen Kollegen zuerst zu Fuß, dann mit dem Wagen verfolgt. Nach einer spektakulären Verfolgungsjagd durch Fretterode und Gerbershausen mussten die beiden Fotografen auf der Landstraße am Ortseingang von Hohengandern ihren BMW stoppen. Die maskierten Männer gingen sofort zum Angriff über. Sie waren mit Baseballschläger, Messer, einem 40 bis 50 Zentimeter langen Schraubenschlüssel und Reizgas bewaffnet. Bei der Attacke sei der BMW zerstört worden, M. wurde von einem der rechten Angreifer mit dem Messer am Oberschenkel verletzt, sein Kollege trug eine Platzwunde am Kopf durch den Schlag mit dem Schraubenschlüssel davon. Die beiden maskierten Männer raubten die Fotoausrüstung der Journalisten.

„Aufgrund der Gefährlichkeit der Angriffe insbesondere mit einem Messer und mindestens einem Schlag mit einem schweren Schraubenschlüssel auf den Kopf sowie den entstandenen erheblichen Verletzungen steht hier neben einem schweren Raub auch ein versuchtes Tötungsdelikt im Raum“, sagte Sven Adam, Anwalt der Opfer, nach der Tat.

Anhand von Fotos von den Angreifern während des Überfalls fällt der Verdacht schnell auf Gianluca Bruno, Vorstandsmitglied der NPD Niedersachsen, und einen der Söhne Heises.

LKA schließt Ermittlungen ab

Inzwischen hat das Landeskriminalamt Thüringen seine Ermittlungen in dem Fall abgeschlossen, erläutert Oberstaatsanwalt Ulf Walther von der Staatsanwaltschaft in Mühlhausen. Schwerer Raub plus Körperverletzung wird den beiden Beschuldigten danach zur Last gelegt. Mindestens fünf Jahre Haft drohten den Beschuldigten nun, so Walther. Weil einer der Täter aber noch als Heranwachsender gilt, werde nach Jugendstrafrecht geurteilt und das Strafmaß entsprechend milder ausfallen.

Skepsis an der Tätigkeit als Journalist

Zwar sei das Vorgehen der Täter brutal gewesen, aber bei den Ermittlungen hätten sich „keine objektiven Anhaltspunkte für eine Tötungsabsicht“ ergeben, sagt Walther. Eine „billigende Inkaufnahme eines Todes“ habe es bei den Tätern nicht gegeben.

Dass es sich bei den Geschädigten selbst um Journalisten gehandelt haben soll, quittiert Walther am Telefon mit einer gehörigen Portion Skepsis. Ja, Presseausweise hätten beide zwar vorlegen können, sagt er. „Veröffentlichungen, die nachweisbar wären“, gebe es aber nicht.

Kritik der Opferberatungsstelle Ezra an den Ermittlungen

Auch sei die Feststellung der Identität der beiden mutmaßlichen Täter schwierig gewesen. Habe doch einer von ihnen auf den Fotos vom Angriff ein Tuch vor dem Gesicht getragen. Nach Tageblatt-Recherchen gestaltete sich auch die Identifizierung einer Tätowierung auf dem rechten Arm von Heises Sohn als schwierig. Fotos zeigen ihn beim „Schwert&Schild“-Festival im sächsischen Ostritz wenige Tage vor der Tat noch ohne Tattoo. Inzwischen soll das Motiv, das noch auf den Fotos zu sehen ist, übertätowiert sein. Bei den von den Opfern vorgelegten Fotos gebe es, so Walther, „keine offensichtlichen Hinweise auf Manipulation“. Die Authentizität der Bilder habe, wie bei allen anderen Beweismitteln, aber überprüft werden müssen.

Zeugen sind „sehr vorsichtig“

Das „Aussageverhalten der Zeugen“ beschreibt Walther in dem Fall als „verhalten“. Die Zeugen agierten „sehr vorsichtig“. Ob das von ihrer möglichen Angst vor Einschüchterungen oder Vergeltungsmaßnahmen von Rechts herrühre, vermag er nicht zu sagen.

„Hey! Hier werden keine Bilder vom Grundstück gemacht“, schallt es während der Anreise der Gäste vom Heise-Anwesen herüber. Heises Helfer Bruno gibt den Aufpasser. Mit einer Stroboskop-Taschenlampe versucht er, die Aufnahmen zu verhindern. Telefonisch gehen bei der Polizei Beschwerden ein, Bruno, gekleidet in einer Jacke der „Arischen Bruderschaft“, sucht das persönliche Gespräch mit der Polizei. Mit Erfolg.

Weitergabe von Personalien an Heise

Polizeiführer Thomas Gubert verlangt von den Journalisten, das Fotografieren zu unterlassen, sonst drohten Platzverweis und die Löschung der Bilder. Später, nach einem Telefonat mit der Staatsanwaltschaft Mühlhausen, will Gubert auch die Personalien von M. und einem weiteren Fotografen aufnehmen. Diese sollen an den Beschwerdeführer Heise weitergegeben werden, um ihm, so Gubert, entsprechend dem Thüringer Polizeiaufgabengesetz den Schutz privater Rechte gewährleisten zu können und um gegen eine mögliche Veröffentlichung der Bilder vorzugehen.

Das „mildeste Mittel“

Vor einer Sicherstellung der Kamera oder der Vernichtung der Bilder wertet die Polizei die Weitergabe der Personalien als das „mildeste Mittel“. Der Journalist könne seiner Tätigkeit so weiter nachgehen. „Wenn er zu einem späteren Zeitpunkt doch widerrechtlich die gefertigten Aufnahmen von Besuchern veröffentlichen sollte, haben die Geschädigten die Möglichkeiten, ihre rechtlichen Interessen durchzusetzen, und die Polizei stellt dann die erhobenen und entsprechend dem Polizeiaufgabengesetz und der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung erhobenen und gespeicherten Daten den Berechtigten zur Verfügung“, erläutert Pressesprecherin Töpfer.

„Super-bedrohliche“ Situation

M. und sein Kollege werten diese Weitergabe der Personalien als „super-bedrohlich“, sei doch nicht ausgeschlossen, dass sie in die Hände der mutmaßlichen Täter vom April fallen. Diese schreckten vor Gewalt nicht zurück. So etwas schüchtere ein und behindere die Journalisten in ihrer Arbeit. Schon nach dem gewalttätigen Überfall während der Recherche im April, so erzählt M. weiter, habe er sich mit dem Gedanken getragen, die Dokumentation über die extreme Rechte einzustellen.

Aus Sicht der Polizei sollten die Fotografen explizit auf die Privatsphäre und das damit einhergehende Verbot des Fotografierens der Familie und den Gästen hingewiesen werden. „Denn es war offensichtlich, dass die Bilder seitens des Journalisten darauf abzielten, nicht das Wohnhaus einer Person des öffentlichen Lebens abzubilden, sondern gezielt Besucher der privaten Veranstaltung“, urteilt Töpfer später. Vor Ort hat sich die Polizei keines der Bilder angeschaut.

Polizei verweist aufs Recht am eigenen Bild

Um möglichen Verstößen gegen das Kunsturhebergesetz („Recht am eigenen Bild“) vorzubeugen, hätten sich die Polizisten nach dem Polizeiaufgabengesetz entschlossen, das Fotografieren zu verbieten und entsprechend dem Thüringer Polizeiaufgabengesetz mit der Sicherstellung der Kamera und Vernichtung der Aufnahmen zu drohen. „Ein Journalist fertigt Fotos, nicht um sie privat für sich zu verwerten, sondern über ein Ereignis, auch mit Bildern zu berichten“, sagt Töpfer. „Immer im Kontext zur privaten Veranstaltung bestand hier eine Gefahr für die anreisenden Besucher, dass ihre von ihnen gefertigten Fotos gleich oder zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht werden.“

Anwalt Adam stellt klar: „Natürlich darf Presse recherchieren. Auch zu Dokumentationszwecken. Recherche als solche ist niemals strafbar.“ Auch Hintergrundrecherche müsse möglich sein, sagt Adam. Die Recherche sei durch das Ausweisen durch den Presseausweis und einer Nennung der Medien, für die gearbeitet wird, legitimiert. Die angedrohte Weitergabe der Personalien sei unnötig gewesen, urteilt Adam.

„Eichsfeld ist schwierig für freie Berichterstattung“, lautet M.s Fazit aus zwei Recherchen im thüringischen Eichsfeld.

Von Michael Brakemeier