Die rechtsradikalen Angeklagten im Fretterode-Prozess versuchen, sich als die wahren Opfer zu inszenieren

Als alles vorbei war, die Angreifer geflüchtet waren und er am Straßenrand hockte, geschockt und blutüberströmt, wartend auf Polizei und Krankenwagen, da sei ihm immer wieder nur ein Gedanke durch den Kopf geschossen: »Ich habe die ganze Zeit gedacht, dass sie wiederkommen und es zu Ende bringen«, sagt der 29-Jährige am Donnerstag im Landgericht Mühlhausen.

Sie – damit meint er die Neonazis Nordulf H. und Gianluca B. Und er beschreibt den brutalen Angriff auf ihn und einen Kollegen – zwei freie Journalisten, die über die extreme Rechte recherchieren – und an jenem Aprilsonntag 2018 das Anwesen von Thorsten Heise im thüringischen Fretterode beobachtet hatten. Heise, NPD-Bundesvize, Kameradschaftsführer und einer der mächtigsten Männer im deutschen und internationalen Rechtsextremismus, ist der Vater von Nordulf H. (22). Gianluca B. (27) gilt als sein Ziehsohn.

Im sogenannten Fretterode-Prozess müssen sich die beiden Neonazis unter anderem wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung und schweren Raubs verantworten. Sie sollen den Journalisten die Kamera geraubt haben, um an die von ihnen gemachten Fotos zu gelangen. Sie bestreiten das. Nur eine Beschädigung des Autos hat Nordulf H. beim Auftakt eingeräumt. Mit dem, was an diesem zweiten Verhandlungstag vom ersten ihrer beiden mutmaßlichen Opfer erzählt wird, hat das so gut wie keine Ähnlichkeit.

Von einer Verfolgungsjagd, bei der die Angeklagten versucht hätten, sie bei hohem Tempo von der Straße abzudrängen, erzählt der Göttinger. Und von hemmungslosen Attacken mit einem wuchtigen Traktor-Schraubenschlüssel, einem Baseballschläger und einem Messer. »Er hat wild in den Wagen reingeprügelt«, sagt er über den Heise-Sohn. Mit dem Messer habe Nordulf H. auf seinen Kollegen eingestochen. Und ihm selbst sei von Gianluca B. der Schädel gebrochen worden: »Er hat mit beiden Händen ausgeholt und mich mit dem Schraubenschlüssel an der Stirn getroffen.«

Die Angeklagten hatten in ihren zu Prozessbeginn verlesenen Einlassungen erklärt, den Mann zu kennen – aber nicht als Journalisten, sondern als gewaltbereiten Antifa-Aktivisten. Die empirische Grundlage für diese Behauptung erweist sich auf kritische Nachfrage des Gerichts nun jedoch als sehr dünn. »Mein Papa hat mich mit auf eine Demo genommen, um mir das alles zu zeigen«, sagt Nordulf H. Es war eine Wahlkampfkundgebung der NPD in Göttingen im Jahr 2016. Da habe der Mann sie aggressiv als »Scheißnazis« beschimpft. »Und er hat auch ein Telefon in der Hand gehabt und gefilmt.«

An ihrer Geschichte, nach der sie die wahren Opfer jenes Aprilnachmittags gewesen seien, halten die Neonazis auch in der Befragung fest. Ihm sei es lediglich um das Feststellen des Autokennzeichens bei der Verfolgung gegangen. Nur das Recht am eigenen Bild habe er durchsetzen wollen, beteuert Nordulf H. Warum er dann überhaupt ausgestiegen sei, als sich ihre Widersacher in einem Straßengraben festgefahren hatten? »Das kann ich Ihnen zu 100 Prozent nicht mehr beantworten.« Und wozu habe er sich mit dem Schraubenschlüssel bewaffnet? »Ist halt passiert.«

Dass er damit dann auf das Auto der Journalisten eingeschlagen hat, das hat er zugegeben. Ansonsten wollen er und sein Freund sich nur gegen Angriffe der vermeintlichen Antifa-Schläger verteidigt haben. Gianluca B. sagt dann noch, dass er sich dabei den kleinen Finger gebrochen habe. Im Krankenhaus hatte er später freilich erklärt, sich den Finger in der Autotür geklemmt zu haben. Am Montag wird der Prozess fortgesetzt.