Über drei Jahre nach dem Überfall auf zwei Journalisten in Fretterode (Eichsfeldkreis) beginnt der Prozess gegen die mutmaßlichen Täter. Die Anwälte der Journalisten kämpfen vor dem Mühlhäuser Landgericht (Thüringen) auch dagegen, dass die Tat bagatellisiert und entpolitisiert wird. Kritik gibt es von Verbänden auch an der Justiz.

Göttingen

Für die beiden Göttinger Anwälte Sven Adam und Rasmus Kahlen geht es im Fretterode-Prozess auch darum, die angeklagten Taten in einen politischen Kontext zu stellen. Beide Anwälte vertreten die angegriffenen Journalisten. „Es geht darum“, erklärte Adam am vergangenen Donnerstag bei einer öffentlichen Informationsveranstaltung zum Prozessauftakt, „der Tendenz entgegenzutreten, die Tat zu bagatellisieren und zu entpolitisieren.“

Allein, dass einer der Täter bei der Tat mit einem Tuch maskiert war, das das Logo der „Arischen Bruderschaft“ trägt, zeige „wessen Geistes Kind“ dieser sei, sagte Adam. Die Bruderschaft gilt bei Beobachtern der Szene als Vereinigung führender Mitglieder von Kameradschaften aus Südniedersachsen, Hessen, Thüringen und Nordrhein-Westfalen. Ihr Zeichen mit zwei gekreuzten Handgranaten weist starke Ähnlichkeiten mit der SS-Sondereinheit Dirlewanger auf, die im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Kriegsverbrechen beging.

Adam kritisierte zum einen, dass die Staatsanwaltschaft in Mühlhausen den Angriff nicht als versuchten Totschlag wertet, und zum anderen, dass die mutmaßlichen Täter nicht in Untersuchungshaft genommen wurden. „Eine krasse Fehlentscheidung“, sagt Adam. Sie habe zu einem „elendig lang verschleppten Verfahren geführt“. Die Staatsanwaltschaft habe keine Fluchtgefahr gesehen.

„Dimension militanter, organisierter Neonazistrukturen“ verkannt

Am Montag forderte die thüringische Opferberatungsstelle Ezra eine „konsequente Strafverfolgung gegen militante Neonazi-Schläger“, die „kein Lippenbekenntnis mehr bleiben“ dürfe. Die Erwartungen seien aber nicht allzu hoch, sagte Ezra-Beraterin Theresa Lauß mit Blick auf verschleppte Verfahren und die „skandalösen“ Urteile in Prozessen gegen militante Neonazis etwa im Ballstädt-Verfahren. Das inkonsequente Handeln der Strafverfolgungsbehörden im Fall Fretterode stehe exemplarisch für das Justizproblem in Thüringen, erklärte Lauß. Dass der Angriff nicht als versuchtes Tötungsdelikt eingeordnet werde, sei ein Skandal. Das sei, so Lauß, „hochgefährlich und verkenne auch die Dimension militanter, organisierter Neonazistrukturen, aus denen diese Tat begangen wurde“.

Es bestehe „die reale Gefahr“, dass die Täter „erneut ohne angemessene Strafen“ davon kämen, so Lauß weiter. Journalisten, die als erklärtes Feindbild von Neonazis dienten, und sich bei der Ausübung ihrer Arbeit der Lebensgefahr aussetzten, würden hier vom Rechtsstaat im Stich gelassen.

Der zeitliche Abstand zwischen der Tat und dem Prozessbeginn macht etwa den Geschäftsführer des Deutschen Journalistenverbandes in Thüringen, Sebastian Scholz, fassungslos. „Das ist nicht nur eine Tortur für die betroffenen Kollegen“, sagt Scholz. Mutmaßliche Straftäter könnten auch noch meinen, „dass politisch motivierte Übergriffe für sie folgenlos bleiben“.

„Harte Urteile“

Die Linke-Innenpolitikerin Katharina König-Preuss aus Thüringen sagte vor dem Prozess, die Angreifer hätten bei ihrem Übergriff auf die beiden Journalisten deren Tod billigend in Kauf genommen. Auch für sie ist es unverständlich, dass ihnen erst jetzt der Prozess gemacht wird. Zumal der Thüringer Justiz in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit einem anderen Verfahren – zum Neonazi-Überfall auf eine Kirmesgesellschaft in Ballstädt – immer wieder vorgeworfen wurde, sie betreibe die Strafverfolgung bei rechtsmotivierten Tätern nicht mit dem nötigen Nachdruck. Vertreter von Staatsanwaltschaften und Gerichten haben diese Kritik stets empört zurückgewiesen. Der Thüringer Innenminister Georg Maier (SPD) hatte sich im Mai 2020, also zwei Jahre nach der Tat, für schnelle Verurteilungen und „harte Urteile“ ausgesprochen, um für die Zukunft sicherzustellen, dass so etwas nicht noch einmal passiere.

Strafe nach Angriff auf Connewitz

Während der Veranstaltung am Donnerstag ging Szene-Beobachter Marian Ramaswamy auf die extrem rechte Vergangenheit der beiden mutmaßlichen Täter ein. So sei Gianluca B. seit etwa 2010 in der Szene aktiv – unter anderem in der Northeimer AG Rhumetal gemeinsam mit Pascal Z., der jüngst wegen eines versuchten Sprengstoffanschlags und diverser anderer Delikte für mehr als dreieinhalb Jahre Gefängnis verurteilt wurde. Später ist B. in der Kameradschaft Northeim als Funktionär in der NPD und im sogenannten „Freundeskreis Thüringen Niedersachsen“ aktiv. Er tritt mit Unterstützung von NPD-Kader Thorsten Heise in Northeim zur Kommunalwahl an. 2016 überfällt er mit Pascal Z. und anderen Neonazis das linke Szeneviertel Connewitz in Leipzig. Das Amtsgericht Leipzig verurteilt B. deswegen zu einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung. Die Freiheitsstrafe wurde wegen der langen Verfahrensdauer verkürzt. 2018 greift er dann die beiden Journalisten an. Nach dem Angriff sei B.s Ansehen in der rechten Szene stark gestiegen, so Ramaswamy.

„Aktionsorientiert“ und gut vernetzt

Bei dem zweiten mutmaßlichen Täter handelt es sich um den Sohn von Thorsten Heise. Er sei zuvor weniger auffällig gewesen, so Ramaswamy. Er sei zwar „aktionsorientiert“, habe aber keine „Funktionsaufgaben“ innerhalb der extremen Rechten übernommen. Nach dem Angriff auf die Journalisten habe er aber Ordner-Aufgaben bei dem vom Vater organisierten Neonazi-Festival „Schild und Schwert“ im sächsischen Ostritz übernommen. Unterdessen hatte Nordulf H. eine Ausbildung in der Schweiz begonnen und inzwischen abgeschlossen. Dort habe es „regen Austausch“ mit deutschen Neonazis gegeben. Unter anderem hätten ihn Teile der sogenannten Göttinger Nazi-Clique dort besucht. Mitglieder der Clique übernahmen in Ostritz ebenfalls Ordner-Aufgaben. Nordulf H., so Ramaswamy, gelte in der Szene als gut vernetzt.

Das gilt auch für Vater Thorsten Heise. Der gelte als „Kristallisationsfigur“ und „Rückgrat“ der extremen Rechte, führte Kai Budler aus. Budler, früher unter anderem auch beim Stadtradio Göttingen tätig, lebt und arbeitet heute in Erfurt. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der rechtsextremen Szene in Deutschland. Unter anderem ist er Autor für das Blog „Störungsmelder“ der Zeit und für den „Blick nach rechts“.

Von Fretterode aus vertreibt Heise über sein Firmengeflecht Rechtsrock, veranstaltet Konzerte, beispielsweise den Eichsfeldtag in Leinefelde. Sein Haus ist Treffpunkt der extremen rechten Szene, auch für Rechtsrock-Konzerte. Seit 2016, so Budler, forciert Heise das „Feinbild Journalist“. Heise nenne auf Veranstaltungen deren Namen öffentlich, motiviere zu Angriffen, sagt Budler. Ramaswamy pflichtet bei: Einen Monat vor dem Angriff auf die Journalisten in Fretterode habe Heise in einem Vortrag gegen Journalisten gehetzt. Seien es früher Politiker gewesen, seien es heute Journalisten, die als Feinde markiert würden.

Von Michael Brakemeier / dpa