Adrien Woeffray im Wallisier Boten, 02.01.2021

Der Deutsche N.H. soll in Thüringen auf einen Journalisten eingestochen haben. Ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Thüringen, der 29. April 2018. Der Fotograf M.M.* und sein Begleiter sind auf Recherche über Neonazi-Netzwerke und rechte Gewalt im kleinen Ort Fretterode, wo ein hochrangiges Mitglied der rechtsextremen Kleinpartei NPD wohnt. Als sie entdeckt werden, entscheiden sich die beiden zum Rückzug. Am Ortsausgang versperrt ihnen ein anderer Wagen den Weg. Zwei Männer springen heraus, vermummt und bewaffnet mit Baseballschläger und Schraubenschlüssel. M.M. und sein Begleiter rasen im Rückwärtsgang durchs Dorf. Es kommt zur Verfolgungsjagd, Unfall mit einem Drittfahrzeug, Sturz in den Strassengraben. Während sein Begleiter zu Fuss flüchtet, schafft es M.M. nicht mehr aus dem Wagen. Einer der
Angreifer versucht, ihm die Kameratasche zu entreissen und sticht mit einem Messer zu. M.M. kommt mit einer Stichwunde im Oberschenkel davon, seinem Begleiter wird mit dem Schraubenschlüssel eine 15 Zentimeter lange Wunde in die Stirn geschlagen. Später stellt sich heraus, dass der Stirnknochen gebrochen wurde.
So erzählt es M.M. über ein Jahr nach dem Angriff gegenüber der «Süddeutsche Zeitung», die den Angriff rekonstruiert hat. Wie sich der Vorfall letztlich zugetragen hat, konnte bis heute nicht abschliessend geklärt werden. Das Justizverfahren wurde verschleppt. 15 Monate nach der Anklageerhebung und fast drei Jahre nach dem Vorfall beginnt mit dem Strafprozess am Landgericht Mühlhausen Ende Januar die Aufarbeitung.
Wieso ist der Vorfall um deutsche Journalisten und Neonazis bedeutend für die Region? Weil einer der beiden Beschuldigten, N.H., in einem Oberwalliser KMU die Lehre als Heizungsinstallateur absolviert, die Gewerbeschule besucht und in der Region lebt (der WB berichtete am 8. Juni 2019). Geschäftsführer hält an seinem Lehrling fest Dies bestätigt der Geschäftsführer des KMU auf Anfrage. «N.H. ist ein guter Lehrling», sagt er, «er wird im Sommer 2021 seine Lehre bei uns abschliessen.» Über den Vorfall in Fretterode habe er erst nach der Unterzeichnung des Lehrlingsvertrags durch eine Fernsehreportage erfahren. Dennoch halte er mit Sicherheit bis zum Abschluss des Prozesses an seinem Mitarbeiter fest. Denn: «Er arbeitet zuverlässig, sauber und ist anständig», sagte der Geschäftsführer im Sommer 2019 gegenüber dem Walliser Boten. Auf Anfrage wiederholt er diese Einschätzung. «Und er kapselt sich von seiner Familie ab.» Dass N.H. im Wallis Zuflucht gefunden hat, überrascht M.M. nicht. Die rechtsextreme Szene sei europaweit gut vernetzt, sagte der Journalist damals gegenüber dieser Zeitung. «Es ist bekannt, dass auch Walliser immer wieder NaziVeranstaltungen in Deutschland besuchen. Zuletzt am sogenannten Eichsfeldtag der NPD, wo zwei junge Oberwalliser zusammen mit N.H. anwesend waren.» Weiter wurde N.H. die Stelle in Visp vermutlich von einem Mitarbeiter der Firma vermittelt, der mittlerweile nicht mehr dort beschäftigt ist. Er soll auch dessen mutmasslicher Mitbewohner oder zumindest Vermieter gewesen sein. Ebendieser ehemalige Mitarbeiter veranstaltete 2005 das Neonazi-Konzert in Gamsen und wurde wegen Widerhandlung gegen die Rassismus-Strafnorm verurteilt. Er war für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Bis zu zehn Jahre Haft Am 26. Januar beginnt nun der Prozess gegen N.H. und G.B. Während die deutsche Strafprozessordnung die Herausgabe der Anklageschrift vor Abschluss eines Verfahrens unter Strafe
stellt, lautet die Anklage der Staatsanwaltschaft Mühlhausen gemäss diversen thüringischen Medien auf schweren Raub, gefährliche Körperverletzung und Sachbeschädigung.
Dies bestätigt auch M.M.s Anwalt Sven Adam. Ihm geht die Anklage indes zu wenig weit. Deshalb plädiert er als Nebenkläger weiter auf versuchten Totschlag. «Beide Verletzungen hätten bei ungünstigem Verlauf auch zum Tod führen können», schreibt er, «Unserer Auffassung nach haben
dies die Täter billigend in Kauf genommen.» Für den Strafprozess sind derzeit insgesamt acht Verhandlungstage angesetzt. Im Falle eines frühen Geständnisses würde das Verfahren verkürzt. Adam geht indes davon aus, dass die Prozesstagewegen umfassender Beweisaufnahme nicht ausreichen dürften – und aufgrund des umstrittenen Verfahrens mit einer Revision zu rechnen sei.
Bei einer Verurteilung wegen schweren Raubes steht in Deutschland bereits eine Haftstrafe ohne Bewährung im Raum, erklären die Nebenkläger in einer Pressemitteilung. Berücksichtigen die Richter den versuchten Totschlag, ist die Straferwartung noch höher. «Es droht eine mehrjährige
Haftstrafe ohne Bewährung», schreibt Rechtsanwalt Adam, «dies ist auch das Ziel der Nebenklage.» Den Beschuldigten drohen in diesem Fall bis zu zehn Jahren Haft.